MY SONG – Interview und Fototermin mit Harry Belafonte

© Text und Fotos: Jürgen Gutowski

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„My Song“

 

 Harry Belafonte brachte sein Leben zu Papier

 

Ein grauer Tag in einem grauen West-Berlin im Jahr 1956, die Kriegstrümmer sind schon weggeräumt, aber noch immer klaffen Lücken in den einsamen Straßenschluchten, durch die sich ein großer, offener Wagen schlängelt. Auf der Rückbank der 29-jährige Harry Belafonte und sein Bandleader Bob DeCormier auf dem Weg zum Hotel. Am Flughafen hatte eine Handvoll Reporter gewartet, aber sonst war kaum ein Mensch zu sehen. Kein Wunder, verbot doch das noch immer geltende Kriegsrecht größere Menschenansammlungen in den alliierten Sektoren der ehemaligen Reichshauptstadt. Durch die geschlossenen Fenster des Hotels dringt ein leises Summen, das „wie ein Moskitoschwarm“ klang, erinnert sich der 85-jährige Harry 46 Jahre später, und die Augen und Zähne des Erzählers blitzen wie damals, als sein „Banana Boat Song“ die ganze Welt in den Calypsorausch versetzte. „Day-O…“ Wir sitzen im Besprechungsraum „Elbe 1“ des Hanseatic-Hotels in Hamburg und Harry lässt die Katze aus dem Sack: Der Moskitoschwarm vor dem Hotel rief keineswegs „Sieg Heil, Sieg Heil“, wie die Musikanten argwöhnten: Harry stößt die Fensterläden auf, und ein paar Tausend Schüler und Studenten unten auf der Straße verstoßen eklatant gegen das Kriegsrecht, indem sie „Har-ry, Har-ry“ intonieren und abends in der Show beim jüdischen Volkslied „Hava Nageela“ vor Begeisterung mit dem amerikanischen Entertainer über Tisch und Bänke tanzen. „Die Dankbarkeit, die Liebe und Herzlichkeit, die mir von diesem deutschen Publikum entgegen gebracht wurde, zählt zu meinen schönsten Erinnerungen.“

 

Trinker, Spieler, Ehebrecher

 

Ein gediegener Mann, ein schöner Mann in Kaschmir und Flanell, schlank und aufrecht, ein immer noch beinahe faltenfreies Gesicht, eine kecke Baseballkappe mit UNICEF-Logo auf der polierten Glatze. Ein „Mann von Format“, dem auch Gehstock und Hörgerät nichts von seiner Ausstrahlung und Würde nehmen.  Ein Mann, nach dem sich zweifellos immer noch die Frauen umdrehen. An seiner Seite die Fotografin Pamela Frank, die er 2008 – immerhin schon 81-jährig – heiratete. „Ich würde nichts an meinem Leben ändern, wenn ich noch einmal von vorn beginnen könnte, allerdings hätte ich meine letzte Frau zuerst geheiratet“, flirtet Mr. B. durchaus überzeugend in Pamelas Richtung. „Ob ich verheiratet bin? Oh ja, sehr sogar!“ Pam strahlt und errötet ein ganz klein wenig. Spätes Glück ist vielleicht doch keine Illusion. Vielleicht wäre in den fünfzig Jahren davor einiges anders gelaufen. Harry Belafonte verrät in seiner Autobiografie „My Song“ auch seine dunklen Seiten, er berichtet von seiner langjährigen Spielsucht an der Seite von Frank Sinatra in den Mafia-eigenen Spielhöllen von Las Vegas, wo der Star wegen seiner Hautfarbe zwar in einem schäbigen „Nigger-Motel“ am Stadtrand nächtigen musste, aber als gern gesehener Zocker fast sein ganzes Vermögen bei Wodka, Schampus und Teilzeitbräuten verjubelte. Über 50 Jahre war er mit der Tänzerin Julie Robinson verheiratet, fast genauso lange währte seine Psychotherapie beim Österreich-stämmigen Dr. Peter Neubauer vom New Yorker Siegmund-Freud-Institut. „Ich wurde nicht damit fertig, dass ich zum Star geworden war und in den Südstaaten wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt wurde.“

 

 

In The Ghetto

 

Harrys bildhübsche Mutter mit dem schönen Namen Millie Love war doppelt illegal: Bürgerin New Yorks ohne Aufenthaltsgenehmigung und von Beruf Lotteriebetreiberin in Harlem. Harrys Vater Harold war ein Säufer und Schläger. Wenn er abends nach Hause kam, in die wechselnden Bruchbuden ohne Heizung, ständig auf der Flucht vor den Behörden, verprügelte er Frau und Kind, bis die zerrissenen Bettlaken blutig waren. Als Harry sich ans Flicken der Wäsche machte und dabei mit der Schere ausrutschte, verlor er sein rechtes Augenlicht. Zur Strafe für seine Ungeschicklichkeit und fürs Doktorspielen mit der kleinen Eleanor aus der Nachbarschaft ließ Vater Belafonte an einem Sonntag vor dem Kirchgang kochendes Wasser in die Badewanne ein und befahl Harry einzusteigen. Als er gerade bei der Unterhose angelangt war und heulend ins kochende Wasser gehen wollte, riss der Vater ihn zurück und peitschte ihn mit seinem Gürtel aus, bis schließlich Mutter Love einschritt und das Kind in die Notaufnahme des Krankenhauses brachte. Harry begann, seiner Mutter das Lotteriegeld zu stehlen, wüste Prügeleien waren an der Tagesordnung. Er schämte sich seiner Hautfarbe und verbreitete, sein krauses Haar und sein dunkler Teint seien das Resultat einer schweren Verbrennung, und er ging nicht mehr zur Schule. Down Town Harry im letzten Haus einer ausweglosen Sackgasse. Wärme gab es nur als heißen Dampf aus Gullys und U-Bahnschächten, erinnert sich der alte Mann im frühlingshaften Hamburg. Und an einen Satz seiner Mutter: „Lass keinen Tag vergehen, an dem du nicht die Gelegenheit ergreifst, für Gerechtigkeit zu kämpfen.“

 

Phoenix aus der Asche

 

Mit 17 meldet sich Harry freiwillig zur U.S. Navy und erlebt als schwarze „Teerjacke“ die Fortsetzung des Rassismus mit militärischen Mitteln. Rassentrennung, ähnlich der Apartheid Südafrikas, war an der Tagesordnung in allen Waffengattungen. Später lügt er seiner ersten Frau Marguerite vor, er sei Angehöriger einer amerikanischen U-Boot-Elitetruppe gewesen, um (erfolglos) Eindruck zu schinden. In einer Theatergruppe trifft Harry seinen ersten richtigen Freund: Sidney Poitier, wenig später auch Marlon Brando, Walter Matthau, Rod Steiger, Elaine Stritch und Tony Curtis, allesamt noch völlig unbekannt, und spielt mit Ihnen „Days of Our Youth“. Durch einen Zufall landet Harry wenig später im Jazz Club „Royal Roost“, wo ihn ein befreundeter Kellner umsonst in der ersten Reihe sitzen lässt. Kein Geringerer als Charlie Parker fordert ihn auf, mal was zu singen. Belafontes „Pennies from Heaven“ vervielfachten sich auf 70 Dollar die Woche, kurz darauf  auf 200 Dollar, „denn das Roost war Abend für Abend brechend voll, alle Leute wollten ‚The Gob with the Throb‘ hören“, den Matrosen mit dem Rhythmus, wie ein Klatschreporter ihn taufte. Eine Radiosendung live aus dem Club, machte aus dem Hilfsarbeiter, der noch vier Wochen zuvor Kleiderständer geschoben hatte, den „Cinderella Gentleman“. Die ersten 10.000 Schallplatten von insgesamt 150 Millionen wurden allein in New York verkauft. Miami für 500 Dollar die Woche plus Taxi-Passierschein für Schwarze, Auftritte in St. Louis/Missouri, bei denen Farbige keinen Zutritt hatten, Mega-Shows am Broadway und in den Megahotels von Las Vegas, deren Pool für „Blacks“ gesperrt war. Auftritte in der Ed Sullivan Show, Goldene Schallplatte, Elvis Plattenverkäufe getoppt – Harry geht ab wie der Hau-den-Lukas-Bolzen auf dem Jahrmarkt des Show-Biz. Songs, die heute Evergreens sind, wie „Day-O”, „Cotton Fields”, „Angelina”, „Island in the Sun”, „La Bamba”, dazu Hollywood-Streifen wie „Bright Road” oder „Carmen Jones“ – erobern die ganze Welt. A star is born.

Zurück zu den Wurzeln

 

Harry, der 85-jährige, denkt einen Moment lang nach und sagt dann, dass er manchmal das Gefühl hatte, seinen Kompass zu verlieren, so wie er verhätschelt und auf Händen getragen wurde über viele Jahrzehnte. Aber seine Frechheit, mit der Gewerkschaft und der Bürgerrechtsbewegung bis heute gemeinsame Sache zu machen, halfen, die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Und sie riefen auch Gegner auf den Plan: FBI, CIA, rechte Politiker der McCarthy Ära observierten und verhöhnten den schwarzen, kulturellen Anführer an der Seite von Martin Luther King, an der Seite der Irak-Kriegsgegner in späteren Zeiten. „George W. Bush ist der größte Tyrann und Terrorist der Welt“, konterte der politische Aktivist Belafonte im südamerikanischen Fernsehen. Der rassistische Ku Klux Clan bedrohte Harry und seine Fans nicht nur in den Südstaaten der USA, er steckte Autos und Hotelzimmer in Brand und wütete ungestraft mit Mord und Totschlag gegen die schwarzen Aktivisten. Dennoch oder gerade deswegen förderte Belafonte mit Millionenbeträgen und der Herstellung von größtmöglicher medialer Öffentlichkeit die Ziele der Befreiungsbewegung: Das Ende der Rassendiskriminierung in den USA. Sein Mentor Paul Robeson, ein bekannter schwarzer Footballspieler, Sänger und Schauspieler, schrieb ihm ins Poesiealbum, dass „Künstler zu sein, ein großes Geschenk und Abenteuer ist. Denn Künstler sind Wächter der Wahrheit. Die wahre Mission der Kunst ist es, der Wahrheit Geltung zu verschaffen, Menschen emotional zu inspirieren und zu berühren.“ Und Harry fügt hinzu: „Und zu motivieren! Wir sind die Erinnerungsgaranten für diejenigen, die vergessen wurden.“ Harry hat die Länder der Vergessenen und die Vergessenen selber kennengelernt, z.B. als UNICEF-Botschafter an der Seite von Audrey Hepburn in den ärmsten Ländern Afrikas, in den privatwirtschaftlich geführten Gefängnissen der Vereinigten Staaten, auf den Pershing II Stützpunkten in Europa und auf den Schlachtfeldern von Vietnam. In seinem Adressbuch standen alle, die er brauchte für „We are the world, we are the children“. Er machte so unterschiedliche Charaktere wie Bob Dylan, Paul Simon, Charlton Heston, Eleanor Roosevelt, John F. Kennedy, Bruce Springsteen, Michael Jackson – die komplette Liste würde eine weitere Seite füllen – zu internationalen Feuerwehrleuten auf den Brandherden der Welt. – Und heute, Mr. Belafonte? – „Well, ich höre heute im Fernsehen wieder die altbekannten Worte: ‚Wascht euch mal! Macht keinen Krach! Sucht euch einen Job!‘ Alles, was sie heute über die Occupy Wall Street Bewegung sagen, haben sie wörtlich auch über unsere Bürgerrechtsbewegung gesagt. Vielleicht macht die Menschheit jetzt dank dieser vielen jungen Leute auf den Straßen den nächsten Evolutionsschritt.“ Und Harry lacht vergnügt, sein Song swingt durch diesen sonnigen Frühlingstag in Hamburg.

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