Indien – Ashram und Ayurveda


Eine Reise zum Ich

© Text & Fotos: Jürgen Gutowski

„Wer Indien nicht nur mit den Augen, sondern mit dem Herzen gesehen hat, für den bleibt es ein Heimwehland.“ (Hermann Hesse)

Die rote Abendsonne spiegelt sich in immer neuen, fließenden Mustern im Ganges. Ich nehme das öffentliche Boot zum allabendlichen Prayer auf der anderen Seite des magischen Flusses. Es ist kurz vor fünf in Rishikesh, heilige „Stadt der Sehenden“, der Yogis und Hindus: Gottheit unter den indischen Ashrams. Kein Fleischer könnte hier überleben, denn alle 60000 Einwohner von Rishikesh sind Vegetarier, Nachfahren der indischen Gottheiten, die hier das Licht der Welt erblickten; gelassen und selbstbewusst spazieren deshalb Rinder und Kühe durch die Gassen und Tempelanlagen. Auf den Treppen am Fluss sitzen, eingerahmt von gewaltigen, farbenprächtigen Schreinen, ein paar hundert Menschen: vollbärtige Mönche, Inderinnen in bunten Saris, gelb gekleidete Klosternovizen, langhaarige Yogaschüler aus aller Welt. Das Hare Krishna wird angestimmt wie schon seit Jahrhunderten, im letzten Abendlicht züngeln Feuer in goldenen schlangenförmigen Leuchtern. Männer und Frauen werfen Zettel mit ihren Wünschen und Gebeten in die Flammen, und der Rauch trägt die Gedanken, Sehnsüchte und Hoffnungen zu höheren Instanzen. Die Beatles haben 1968 hier ihr „Inner Light“ komponiert, George Harrison sang „My sweet Lord“, Donovan und die Beach Boys meditierten in den Ashrams am Fluss, und vor kurzem suchte Madonna ihre jüngste Reinkarnation an diesen heiligen Ufern. Jemand raunt mir zu, „die Yogis glauben daran, dass sich die an einem Ort gedachten Gedanken sammeln und ein spürbares Feld bilden!“ Und in Rishikesh ist die Mischung ein wenig Gottesdienst, Feuerwerk, Irrenhaus und Woodstock – und noch mehr, so sagt mir mein sechster Sinn. Der Gesang ist lauter geworden, die Luft zittert, Inder, Deutsche, Australier tanzen verzückt zu den psychedelischen Gesängen, Frauen und Männer vertrauen sich den reinigenden Fluten des Ganges an, während Shiva, der Gott der Ekstase, hell er- und beleuchtet, segnend die Szenerie überragt. Oft hatte ich von diesen spirituellen Ritualen gehört, jetzt weiß ich, wie mitnehmend sie sind. Und jetzt verstehe ich auch, dass hier, genau an diesem Ort im Himalaja, die „Wissenschaft vom Leben“, auch bekannt als „Ayurveda“, vor 5000 Jahren ihren Anfang nahm. Die „Rishis“ von damals, die heiligen Männer, die der Stadt den Namen gaben, waren die ersten, die sich schon vor Jahrtausenden der Chirurgie, der Pflanzenkunde, der Psychologie und der Harmonisierung und Ausbalancierung von Körper, Geist, Seele und Spiritualität widmeten, und damit die Basis legten für eine globale Medizin, für jeden zugänglich, für jeden erschwinglich, für niemanden schädlich.


 

Die Rishis von heute finde ich eine halbe Autostunde später hoch oben in den Ausläufern des Himalaja. In 1000 Metern Höhe haben sie auf dem Gipfel eines Berges den höchst gelobten und meist ausgezeichneten Spa der Welt geschaffen: Ananda in the Himalayas. „No.1 of the top 25 spas in the world“, wie die Leser des Condé Nast Traveller unlängst befanden. Hier wurde der Spa nicht einem Hotel angeheftet, eher verhält es sich umgekehrt. Und er ist mehr als nur ein Spa, denn auch hier schwebt der Geist von Rishikesh über den heilenden Wassern, wie ich später erfahren werde.

 

Hinter dem schmiedeeisernen Tor erhebt sich, von Rosengärten und Springbrunnen umgeben, der Palast des Maharadschas von Teri Garhwal, märchenhaft wie ein maurisches Schloss, gewaltig wie ein mittelalterliches Kloster, elegant wie ein englischer Landsitz. Lord Mountbatten, letzter Vizekönig von Indien, und die ehemalige indische Premierministerin Indira Gandhi lustwandelten schon in den hellen gelb und blau dekorierten Hallen dieses Palastes. Gewohnt haben sie in der prunkvollsten Suite, der einzigen Unterkunft in diesem Haus, der Viceregal Suite, die mit 220 Quadratmetern Wohnfläche eine ganze Etage umfasst. Der Check In ist kurz, und Minuten später chauffiert mich der livrierte Page auf einem lautlosen Elektrowägelchen hinüber zum eigentlichen Hotel des Anwesens. Ich gehe über eine überdachte hölzerne Brücke und stehe dann in meinem Refugium für die nächsten Tage. Automatisch öffne ich als erstes die Tür zur Terrasse und unter mir eröffnet sich das spektakuläre, tausend Meter tiefe Himalajatal. Der Ganges schimmert in der Ferne, Gebirgsadler segeln in der klaren Bergluft, und über allen Gipfeln ist Ruh`.

Der Weg zum Spa ist kurz, die Erinnerung an ihn wohl lebenslang. Die Maße sind enorm: 20 Therapieräume auf 2000 Quadratmetern, aber wichtiger als Daten und Inhaltsverzeichnisse ist die Chance zur Änderung und Heilung, die dich hier mit Händen greift. Du ahntest es ja schon lange, dass eine Tiefenreinigung deines Körpers und eine Inspiration deines Geistes, die Wiederentflammung deiner kindlichen Seele dich wieder auf deinen Weg zurückführen könnten. Das lange verloren geglaubte gute Lebensgefühl, diese gelassene Weltumarmung, dieser Lebensstil, der ohne negative Gedanken oder Ängste auskommt. Da liegst du nun nackt auf der hölzernen Massagebank in der abgedunkelten Wellnessklause, Wasserfälle, fernes Donnern, Vogelgezwitscher und sanfte Symphonien tragen dich und deine Erinnerungen in dein inneres Wunderland, während sich heißes, geheimnisvolles, in Jahrtausenden weiter entwickeltes Öl auf deinen Körper ergießt. Die beiden Begleiter zum Ich singen ein leises Mantra, und dann berühren vier synchrone Hände deine Chakren oder wie immer du die Lebenszentren deines Körpers nennen magst. Unter die Haut gehen die rhythmischen Eingriffe an den Stellen, wo die Linderung wartet. Im Westen nennt man es Revitalisierung, doch was sind schon Fachbegriffe, wenn du spürst, dass du von Grund auf geweckt wirst. Du vergisst die Welt und die Vergangenheit, Zukünftiges verliert und Gegenwärtiges gewinnt an Bedeutung. Bei Sonnenuntergang findest du dich wieder im Yoga Pavillon im Angesicht des Himalaja. Nie hast du meditiert, aber das ist egal, denn die Yogalehrer um Dr. Pramod Mane werden dir niemals irgendwelche Exerzitien aufzwingen sondern dich zu jener Tür führen, wo du dich zu dir nach Hause einlädst. Öffne die Faust, lass deinen Atem fließen, finde deinen eigenen inneren Wellengang, vergiss alle Tranquilizer und die schaumschlagenden Slogans der organisierten Bedeutungslosigkeiten. Kann sein, dass du einen alten Freund dabei wiederfindest. Dich selber.

Und wenn du noch weiter gehen möchtest, begib dich in die Hände von erfahrenen und verantwortungsvollen Therapeuten, die dich selbst in vergangene Leben zurückführen, wo du lernst, dir selbst zu verzeihen und zurückzukehren in deine neue Welt ohne Angst, Scham oder Stress. Ganzheitliche Wellness, wie oft haben wir dieses Schild nur auf der Tür gesehen, hier erfährst du sie, nachdem du durch dieses Tor gegangen bist. Und hier gibt es noch Hunderte weitere Türen, zusammengetragen aus dem Wellnesswissen aus Ost und West. Wenn du hier bist, wirst du wissen, welche die deine ist. Ich sitze im abendlichen Amphitheater, eine Tasse Tee in den Händen, von tausend Kerzen umgeben, vom Klang der Sitar, von der Schönheit und dem Lächeln der Tänzerinnen und ihres Tanzes betört. Mitten im Himalaja, ganz allein, aber bei mir – wie schon lange nicht mehr.

Diese Reportage erschien u.a. im Art & Reise Magazin (Zürich) und wurde nominiert für den Swiss Media Award 2008.

www.artundreise.ch

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