Himmlische Airbags – Erinnerungen an Südafrika

Bis vor kurzem lebte ich in Südafrika, ingesamt drei Jahre lang. Meine Frau, die bei Daimler in East London arbeitete, hatte mich dorthin verschleppt. Ich habe mich gerne verschleppen lassen, denn nach mehr als 20 Südafrikareisen seit 1994 war ich dem Land am Kap der Guten Hoffnung stets hold und bin es bis heute. Wir lebten am Leadwood Place im Stadtteil Beacon Bay, ein paar Minuten vom schönsten Strand des Indischen Ozeans entfernt. In einem Traumhaus mit zwei Etagen, Doppelgarage, Springbrunnen unter Mangobäumen, zwei Angestellten und einer High-Tech-Alarmanlage mit Bewegungsmeldern und privaten Cops, die bei Alarm über die Mauer sprangen. Wir gehörten zur Klasse der “Happy Few”, also zu den 6 Prozent der Bewohner dieses schönen Landes, die mehr als 1000 Euro monatlich überwiesen bekamen. Waren wir deshalb glücklicher als die restlichen 94 Prozent, die zum großen Teil in Zuständen der Armut leben, die sich ein durchschnittlicher Mitteleuropäer mit mittlerem Fantasiepotenzial nicht mal im Traum vorstellen kann? Wenn ich an die Gespräche mit anderen Expats denke, ab welcher Höhe eine Mauer unseren Reichtum schützen kann, oder ob die 50 Euro-Cent für den Autowächter vorm Restaurant die “Preise kaputt machen” könnten, dann muss ich diese Frage verneinen. Und wenn ich an Eunice, unsere Haushälterin, denke, muss ich sie erst recht verneinen. Eunice hatte ihren Mann und einen Sohn verloren, die beide an AIDS gestorben waren. In fast jeder südafrikanischen Familie schlägt diese Krankheit zu, sie hat dazu geführt, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung der Südafrikaner von 65 auf 43 Jahre verkürzt hat. Die Lage hat sich kaum verbessert. Wie auch, wenn der frühere Präsident Mbeki den Zusammenhang von HIV und AIDS stets leugnete und der gegenwärtige Präsident Zuma öffentlich behauptete, Duschen nach dem Geschlechtsverkehr mit Infizierten wäre ein wirksamer Schutz vor Ansteckung. Eunice hatte da mehr Ahnung als beide Präsidenten zusammen. Aber sie hatte noch etwas anderes, was viele Besucher Afrikas “ansteckt”, auch in “positiver” Weise infiziert: Den “Geist von Ubuntu”. Eine Lebensfreude, die jeden umarmt, der es zulässt. Eine Herzenswärme, die gespeist wird aus einer tiefen Spiritualität, die jeden Schicksalsschlag abfedert wie ein himmlischer Airbag. Ein Soul aus ansteckendem Lachen und ergreifendem Weinen, pulsierendem Rhythmus im Herzenstakt, einem Akzeptieren ohne Wenn und Aber. Wenn es gelebte Toleranz gibt, dann in Afrika. Sie ist den Afrikanern wie Tanz, Musikalität und Spiritualität in die Wiege gelegt. Egal, wie verrückt sich jemand kleidet, wie schräg er singt, wie dick oder dünn er ist, wie abwegig er denkt oder spricht: er gehört dazu und sitzt selbstverständlich am Tisch aller. Und auf dem Tisch stehen Gläser, die allesamt halbvoll sind, nie halbleer.

Dazu eine kleine Anekdote: Ich war nach einem Jahr in Südafrika wieder nach Deutschland geflogen. Es war ein wunderbarer, sonniger Frühlingsmorgen Ende April, als ich über die leuchtenden Rapsfelder Niedersachsens in Hannover einflog. Ich freute mich unheimlich, wieder zuhause zu sein, ich freute mich auf meine Freunde und Kollegen, auf richtiges Brot und die Hochzeitssuppe in der Markthalle. Draußen vor dem Flughafen-Terminal stieg ich in ein Taxi, immer noch ganz high von diesem ergreifenden Moment, und rief dem Taxifahrer enthusiastisch zu: “Was für ein wunderbarer Frühlingstag!!!” Seine Antwort bestand aus vier Worten, die er aber in einem Wort rauszischte: “istmorgenwiedervorbei!”

Eine Woche vorher in Beacon Bay war ich mit unserm Wagen zur Tankstelle gefahren. Es regnete, seit Tagen schon goss es in Strömen, ziemlich ungewöhnlich für das südafrikanische Eastern Cape mit seinen mehr als 300 jährlichen Sonnentagen. Von weitem sah ich schon die Tankwarte zwischen den Zapfsäulen herumswingen, aus den Lautsprechern unter der Decke dröhnte Radio Algoa FM, und mangels Mädels tanzten die Sprit-Boys mit den Benzinschläuchen. Ich ließ das Fenster runter und brüllte durch Regen und Reggae: “Mann, was für ein Scheißwetter!” Der Tankwart lachte schallend und rief zurück: “Ja, Mann, aber die Frösche sind happy!”

Du kannst Afrika verlassen, aber Afrika verlässt dich nie.

Text & Foto © by Jürgen Gutowski

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