Zeitreisen I

Zeitreisen I

Ich bin Reisejournalist. Neulich war ich unterwegs in einem Zug. Ich war allein im Abteil, saß hinten im Waggon und reiste mit freier Sicht nach vorne. Riesen Bild, 3D, Sounds allerseits, besser als im Kino. Vor mir ein sandiger Weg, kurvig, geradezu feminin, und in der Ferne doch geradlinig und tough, wie die Helden auf den Bravo-Starschnitten meiner Kindheit. Ein Sandweg in meinem rollenden Abteil. Links eine Wiese mit einem Teich. Plantschende Kinder, Sommerglück. Rechts ein mächtiger grüner Baum, in dessen Schatten ein Pärchen anstandslos Dinge tat, beglückt. Ganz links, weit hinterm See, hinter den Bergen, riesige Fenster. Bilder flogen vorbei, Szenen aus meinem Leben, wie war das möglich. Je länger ich reiste, desto mehr wich die Farbe aus den Fotos und Filmen draußen, bis sie mir irgendwann fremd wurden, graue Unbekannte in einem 60er Jahre Streifen, unscharf. Kein Zweifel, ich war in einem Film, war Teil eines Films, der rückwärts lief, obwohl die Eisenbahn vorwärts ratterte. Träumerei in Sepia? Zeitraffer am Lebensende? Was soll das? Ich erhob mich, mühsam, denn… lag ich nicht schon seit Wochen im Koma? Ich lief übers billige Linoleum und stand im Sand. Vorbei stapfte ich am Baum der Verführung, neidisch auf die Turtelnden, die mich zu kennen schienen. „Yuri, was suchst du hier?“ rief das Retro Girl mit der goldenen Spange im Haar, während der bärtige Typ neben ihr lässig eine Gitane Blonde aus der zerknutschten Packung klopfte. Wenn ich das wüsste, dachte ich, doch noch bevor ich antworten konnte, erkannte ich in der Ferne, dort wo Erde und Himmel zusammenstoßen, eine schmächtige Gestalt, die mir entgegen kam. Ein Junge, vielleicht 12 oder 13, mit einem grünen Fahrrad, blauen Augen und Hosenträgern an den kurzen Lederhosen. „Ich kenn dich doch“, hörte ich mich sagen, als er vom Rad stieg und mich neugierig beäugte. „Ich dich auch, glaub ich jedenfalls“, grinste er und starrte mich prüfend an. „Na? Was ist aus mir geworden?“ – „Siehst du doch“, sagte ich. – „Und? Bist du geworden, wer ich immer sein wollte?“ Wir zogen die Schuhe aus, ließen sie am Wegesrand liegen, und wanderten barfuß weiter. „Wer wolltest du denn werden?“ – „Immer nur du, glaub ich. Wie Winnetou und Old Shatterhand, aber beides zusammen.“ Ich lachte und erinnerte mich an dieses Treffen, es ereignete sich vor vielen Jahren in den Sommerferien, High Noon zwischen Baggersee und Kanal. Ich kam damals aus der anderen Richtung. Ich hätte diesen älteren Mann nicht weiter beachtet, aber als er mich ansprach, sah ich, dass auch er blaue Augen hatte und genau dieselbe Stimme, die ich von meinem nagelneuen Kassettenrekorder kannte. Ja, ich wollte ein zeitreisender Reporter werden, den Kassettenrekorder und die Super Acht Kamera hatte ich mir ja schon zusammengespart. Es hatte also geklappt. Es hatte tatsächlich geklappt. Wir ließen noch zwei Kieselsteine übers Wasser flitschen, stiegen dann am Bahnhof aus und gingen nach Hause.

© 2017 Jürgen Gutowski

aus „GBS Protokoll einer Krankheit. Luzide Träume“

 

https://www.youtube.com/watch?v=A0q3jl-8K0M

 

 
ich und du

Du weißt schon, wieviel Sternlein stehen
an diesem blauen Himmelszelt
Weißt genau, wie sie sich drehen
hast sie oft genug gezählt

Du warst beim Brunnen vor dem Tor
schnitztest in den Lindenbaum
ein frühes Herz, ein heart, hard core
mit großem Mut, dein Kindertraum

Du lagst schon mal vor Madagaskar
drüben nahe beim Kanal
mit Pfeil und Bogen und dem Kettcar
ganz auf der Höhe, tief im Tal

Komm, wir gehen da hin, komm, wir schauen mal zu
ob sie dort noch leben, Shatterhand und Winnetou
Komm, wir gehen da hin, komm wir schauen mal zu
ob wir sie noch finden, wie damals, ich und du

Da war kein schöner Land in dieser Zeit
kein Kuss, kein Mädchen weit und breit
Und in der Rinde von der Linde
nur das angeritzte Herz, bereit

Du stehst im Wiesengrunde
in deiner Heimat Haus
und aus den Wolken tränen Träume
komm, fang sie ein, mach Schnaps daraus

Komm, wir gehen da hin, komm, wir schauen mal zu
ob sie dort noch leben, Shatterhand und Winnetou
Komm, wir gehen da hin, komm wir schauen mal zu
ob wir sie noch finden, wie damals, ich und du

ich und du

© 2011-2017 Jürgen Gutowski

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